Warum „Stay at home“ so schwer ist
Gestern Abend habe ich in der Tagesschau wieder Interviews mit Menschen gesehen, die munter durch die Straßen zogen und sich damit brüsteten, dass sie das Corona Virus als wenig bedrohlich empfinden. Spring break wird gefeiert, als gäbe es kein Morgen mehr und im Supermarkt belauschte ich ein Gespräch, in dem eine Frau lachend sagte, sie glaube ja immer noch, dass das alles inszeniert sei…
Warum ist es für viele Menschen so schwierig, sich Tatsachen und den daraus folgenden Regeln unterzuordnen? Auch ich, die absolut kooperationswillig ist, spüre Tendenzen von Ausbruch und Rebellion. Ach, heute noch mal… das wird schon nicht so schlimm sein, schießt mir durch den Kopf und dann rufe ich mich selbst zu Recht und Ordnung. In einer Welt, in der schier alles auf Knopfdruck verfügbar und steuerbar ist, kracht ein kleines haariges Ding (so stelle ich mir das Virus vor), das uns unsere Allmachtsphantasien mit einem Schlag zu Nichte macht.
Bis jetzt ist es uns sogar gelungen, die drohende
Klimakatastrophe geschickt immer da zu relativieren, wo wir es gerade
brauchten. Das Problem an Covid-19 ist, es lässt sich nicht relativieren. Es
wird nichts nützen, sich einen „Fuck Corona“-Aufkleber irgendwo drauf zu kleben.
Covid-19 ist unerbittlich und lässt sich nicht wegdiskutieren. Wir können es
nicht wegzappen, wegscrollen oder wegswipen, es ist mitten unter uns.
Das ist einerseits sehr beängstigend, birgt aber auch seltsamerweise eine faszinierende
Seite in seiner Unberechenbarkeit. Der Gang zum Supermarkt wird zum
Abenteuertrip, bei dem man nicht weiß, wo das kleine haarige Ding lauert, und
wer ganz besonders „brave“ ist, begibt sich noch mit 4000 anderen Leuten auf
die Rheinterrassen zum Eis-Essen. Endlich passiert mal was! Die ganze Welt wird
zum analogen viralen EgoShooter-Spiel. Das Desaster, das unsere Welt stilllegt
und viele von uns töten kann, ist mit einer Art Angst-Faszination besetzt. Der Kitzel,
der daraus entsteht ist mit Russisch-Roulette, wo man mit dem eigenen Tod
flirtet, oder einem Speed Race durch die Innenstadt zu vergleichen, bei dem man
den Tod anderer Menschen billigend in Kauf nimmt. Hinzukommt, dass der Reiz des
Verbotenen seit der Vertreibung aus dem Paradies von jeher attraktiv ist.
Aber die Welt dreht sich unbeeindruckt weiter, es wird Morgen und es wird Abend, der Frühling kommt in seiner vollen Pracht. Der Welt ist es egal, ob wir sterben oder nicht, noch nie war es so deutlich! Von einigen wird es sogar als gerechte Strafe der Natur für die Sünden der Menschheit gesehen. Für unseren Hochmut! Und Hochmut kommt vor dem Fall.
Es muss ein Umdenken stattfinden. Die Welt und unsere Gesellschaft ist kein All-Inclusive-Buffet, wo man mit einem Geburtsbändchen am Arm die Berechtigung erhält, sich alles zu nehmen, was man will. Unsere Gesellschaft und unsere Umwelt sollte eine Tauschbörse sein, die auch nicht immer alle Träume und Wünsche auf Vorrat hat. Für diese muss man auch mal anstehen, warten und manchmal eben auch unverrichteter Dinge wieder gehen, so wie im Moment. Wir alle haben uns das Jahr anders vorgestellt, wir wollten ein Geschäft aufbauen, Abitur machen, ins Ausland fahren, etc. etc. Leider aus!
Jetzt sind wir mal dran mit dem Geben und Einzahlen. Wir sind
dran, der Gesellschaft und Welt, die uns bisher ein sorgenfreies Leben
ermöglicht haben, etwas zurück zu geben. Geduld, Vernunft, Solidarität und
Verständnis. Indem wir zu Hause bleiben und nicht unser Ego in der Gegend
rumballern und dann die Treffen, die sich nicht wehren können. Es ist nicht die
Zeit für Abenteuer und Challenges, für Individualismus und Coolness, keine Zeit
für Diskussionen und falsches Streben nach Freiheit. Es ist die Zeit der Demut
und Zeit, zu begreifen, dass die Welt stärker ist als wir. Auch wenn wir
denken, wir seien Chuck Norris und könnten uns die Hände mit Corona waschen.
Es ist kein Spiel! Und wir sind alle verwundbar. Wer das begreift, kann etwas
lernen, das uns in vielen Dingen weiterbringen wird. Persönlich, als Weltbürger
und als Mitglied unserer Gesellschaft.